Nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der Stichprobenerhebung über die Südtiroler Bevölkerung im Alter von 75 Jahren und mehr, die zwischen Februar und Mai 2023 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Allgemeinmedizin und Public Health durchgeführt wurde, veröffentlicht Südtirols Landesinstitut für Statistik ASTAT nun die Publikation „Südtiroler Seniorenstudie 2023“, welche die vollständige Analyse der erhobenen Daten enthält.
Die Umfrage, an der insgesamt 1.695 Personen teilgenommen haben, wurde im
Frühjahr 2023 gemeinsam mit dem Institut für Allgemeinmedizin und Public Health durchgeführt. Es handelt sich hierbei um die zweite Ausgabe der Erhebung nach jener von 2013. Ziel der Studie war es, die Probleme, Verhaltensmuster, Tätigkeiten, zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesundheit der älteren Personen unter die Lupe zu nehmen.
Aufgrund der demographischen Veränderung steigt auch in Südtirol der Anteil der
älteren Bevölkerung (75 Jahre und älter) an. Da ältere Personen aufgrund ihres Alters, der
damit einhergehenden Gebrechlichkeit und dem Auftreten von akuten und chronischen
Krankheiten den größten Bedarf an Gesundheits- und Sozialleistungen haben, ist es im
Rahmen von repräsentativen Erhebungen wie der „Seniorenstudie 2023“ wichtig zu verstehen, wie es den Senioren und Seniorinnen in Südtirol geht.
Die nun vorliegenden Ergebnisse bieten interessante Hinweise, wie die vorhandenen Dienstleistungen entsprechend den geäußerten Bedürfnissen und Wünschen ausgebaut
werden können.
Hohe Zufriedenheit
Die befragten Südtiroler Senior:innen berichten im Rahmen der Studie von
einer hohen Zufriedenheit mit ihrer aktuellen Lebenssituation. Besonders zufrieden sind
sie dabei mit ihrer Wohnsituation und der eigenen Familie. Das zeigt, dass in Südtirol
zwei wichtige Faktoren für ein Altern in Autonomie und Würde von Senior:innen
gegeben sind. Allerdings besteht der Wunsch nach höheren Renten und nach einem leichteren Zugang zu Gesundheitsleistungen und somit nach finanzieller und gesundheitlicher Existenzsicherheit.
Die Rolle der Familie
Die eigene Familie ist für die Senior:innen der zentrale Faktor für die Lebensqualität bis ins hohe Alter. So lebt beispielsweise mehr als die Hälfte der Senior:innen
mit ihrem Partner/ihrer Partnerin zusammen, wovon ein Großteil (69%) angibt, die gemeinsame Zeit zu genießen. 80% der Senior:innen haben Kinder. In 95% der Fälle
unterstützen die Kinder ihre Eltern, vor allem durch Zuhören und Hilfe bei technologischen
Fragen. Umgekehrt hilft die Hälfte der Senior:innen mit ihrem Wissen/Erfahrung oder praktisch beim Kochen, Einkaufen und der Hausarbeit ihre Kinder. Auch in finanzieller Hinsicht unterstützen die Senior:innen häufiger ihre Familie und Verwandte
(22%) als dies umgekehrt der Fall ist (6%).
Gesundheit: mittelmäßig bis schlecht
Der Gesundheitszustand wird von mehr als der Hälfte als mittelmäßig oder schlecht be-
schrieben. Die Anzahl der Personen mit mäßigem bis schwerem Verlust ihrer Selbststän-
digkeit (sog. „gebrechliche“ Personen) beläuft sich auf 27%, bei den 75- bis 84-Jährigen auf
14% und bei den 85-Jährigen und älter beträgt dieser Anteil 63%. Diese Ergebnisse sind
vergleichbar mit internationalen Daten: So liegt der Anteil der gebrechlichen Personen
bei den 65%-Jährigen und älter in europäischen Ländern bei 17% (1), während eine ähnliche Bevölkerungsbefragung in der Schweiz bei den 75-Jährigen und älter 26% ergab (2).
In absoluten Zahlen betrachtet, sind von den ca. 51.000 in Südtirol zu Hause lebenden
Personen mit 75 und mehr Lebensjahren rund 14.000 als „gebrechlich“, d.h. mit einem
Verlust ihrer Selbständigkeit einzustufen. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, dass Gebrechlichkeit die Wahrscheinlichkeit von künftigen Negativfolgen, z.B. die
vermehrte Beanspruchung von Gesundheits- und Sozialdiensten oder die Zunahme von
Abhängigkeit und Beeinträchtigung erhöht (3). Die frühzeitige Erkennung und Diagnose von
gebrechlichen Personen in dieser Altersgruppe durch Hausärzte/Hausärztinnen, so wie in
einem aktuellen Projekt des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health für Südtirol vorgesehen, ist wichtig, um durch gezielte Unterstützungsangebote (z.B. körperliche
Aktivität und Ernährung) die Selbständigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und
sogar zu fördern (4).
Wer benötigt vornehmlich pflegerische Leistungen?
Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem gebrechliche Personen pflegerische Leistungen
(82%) benötigen. Diese werden durch Familienangehörige (63%), eine Pflegeperson/
„badante“ (21%), Hauspflege (16%) und Hauskrankenpflege (10%) abgedeckt. Ende
2022 waren über 15.000 Menschen in Südtirol pflegebedürftig, wobei 75% zu Hause
und ein Viertel in Seniorenwohnheimen gepflegt wurden. Ohne die Übernahme der Pflege durch Familienangehörige würde auch das gut funktionierende Pflegesystem in Südtirol kollabieren. Das Pflegegeld ist die wichtigste finanzielle direkte Leistung für die Menschen in Südtirol. Mit der rentenmäßigen Absicherung der Pflegezeiten besteht eine weitere Unterstützung für Angehörige. Um die häusliche Pflege auch in Zukunft zu gewährleisten, sollte auch der Lohnersatz für pflegende Angehörige geprüft werden. Gleichzeitig ist ein Ausbau der stationären Langzeitpflege notwendig, um die steigende Nachfrage bis 2050 zu decken. So gaben 40% der befragten Senior:innen an, dass sie bei zunehmendem Verlust der Selbständigkeit in einem Seniorenwohnheim, betreutem Wohnen oder alternativen Wohnformen (z.B. Mehrgenerationenhaus) leben würden.
31% der Senior:innen leben allein
Die Befragung zeigt, dass 31% der Senior:innen alleine leben (häufiger Frauen als Männer) und 20% keine Kinder haben. Gerade „Einsamkeit“ hat negative Folgen für die Gesundheit. Menschen ohne starke soziale Kontakte sind einem höheren Risiko von Schlaganfällen, Angststörungen, Demenz, Depressionen und Suizid ausgesetzt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist das Risiko eines vorzeitigen Todes für einsame Menschen so hoch wie oder höher als das Todesrisiko durch Tabakkonsum, Fettleibig-
keit und Luftverschmutzung (5).
Wie kann das Wohlbefinden der Senior:innen gefördert werden?
Da ein optimistisches Lebensgefühl und ein aktiver Lebensstil eine wesentliche Rolle für
das Wohlbefinden von Senior:innen spielen, sollte die medizinische und pflegerische Versorgung im Territorium die Aktivierung der Senior:innen fördern, um die körperliche Gesundheit und das geistige Wohlbefinden, aber auch die Lebensqualität
zu steigern. Proaktive und präventive Angebote, z.B. durch spezialisierte Krankenpfleger:innen im Bereich Familien- und Gemeinschaftspflege, welche die zu Hause allein lebenden, gebrechlichen Senior:innen und ihre Familien und/oder Nachbarschaftshilfe aktivieren und stärken, könnten helfen, damit die Südtiroler Senior:innen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen und so zufrieden, so gesund und so selbständig wie möglich altern können.
Senior:innen wünschen sich einen einfacheren Zugang zu Gesundheitsdiensten
Praktisch jede befragte Person mit 75 und mehr Lebensjahren hat in den letzten 12 Monaten mindestens eine notwendige Visite oder Behandlung in Anspruch genommen.
Allerdings wünschen sich mehr als die Hälfte der Senior:innen einen leichteren
Zugang zu Gesundheitsleistungen. Hier sollte geprüft werden, ob gebrechliche Senior:innen prioritären Zugang z.B. zu fachärztlichen ambulanten Leistungen erhalten sollten. Da auch im Gesundheitswesen die Digitalisierung immer weiter voranschreitet, könnte auch durch den Ausbau von Telehealth und die Nutzung tragbarer Geräte der Zugang zu Gesundheitsleistungen ausgebaut werden, für welche ein Teil der Senior:innen durchaus offen wäre. So gaben immerhin 38% der Senior:innen an, täglich ein Smartphone zu nutzen bzw. 29% das Internet. Der Großteil der Senior:innen ist bei der Nutzung technischer Hilfsmittel auf ihre Angehörigen angewiesen. Hier besteht der Wunsch an die Gesellschaft nach mehr Unterstützung. Gezielte Angebote seitens der öffentlichen Verwaltung und Maßnahmen im Bereich der digitalen Bildung könnten hier die Senior:innen als „digital immigrants“ unterstützen.
Hinsichtlich der Wünsche im Falle von schwerwiegenden Erkrankungen gaben 11% der Befragten an, mit ihrem Arzt/ihrer Ärztin über die medizinische Versorgung bereits gesprochen zu haben. Ebenso viele haben diese in einem offiziellen Dokument (Patient:innenverfügung) hinterlegt. Allerdings antworteten 52%, darüber noch nie nachgedacht zu haben und 22% wollten auf diese Frage nicht antworten. In Deutschland haben laut aktuellen Daten des Robert-Koch-Instituts 44,8% der Ab-50-Jährigen eine Patient:innenverfügung, Frauen häufiger als Männer (50,1% vs. 39,2%) (6). Hinsichtlich Wunsch-Sterbeort gaben 55% ihr Zuhause an, wobei auch hier ein Viertel es vorzog, nicht zu antworten. Eine vorausschauende Gesundheitsplanung (Advance Care Planning) wird immer wichtiger,num auch im Falle schwerwiegender Erkrankungen und am Lebensende den Willen dercbetroffenen Person bei medizinischen Entscheidungen zu respektieren. Eine Patient:innenverfügung bietet, wie vom Südtiroler Landesethikkomitee im Sinne des Staatsgesetzes vom 22. Dezember 2017, Nr. 219, beschrieben, die Möglichkeit, über Wünsche im Hinblick auf schwerwiegende Erkrankungen und das eigene Sterben nachzudenken und diese schriftlich festzuhalten (7). So kann im einwilligungsfähigen Zustand festgelegt werden, welche Behandlungsmaßnahmen gewünscht werden, wenn aufgrund einer schweren Erkrankung selbst nicht mehr entschieden werden kann. In Südtirol sollte die Bevölkerung, insbesondere Senior:innen ab 75 Jahren über die Bedeutung einer Patient:innenverfügung stärker informiert und sensibilisiert werden, um sich zu den
Inhalten und Modalitäten beraten zu lassen z.B. bei der Hausärztin oder dem Hausarzt.
Entsprechende Angebote sollten hier in Südtirol aufgebaut und von öffentlicher Hand finanziert werden.
Quellen
(1) O’Caoimh R, Galluzzo L, Rodríguez-Laso Á, Van der Heyden J, Ranhoff AH, Lamprini-Koula M, Ciutan M, López-Samaniego L, Carcaillon-Bentata L, Kennelly S, Liew A; Work Package 5 of the Joint Action ADVANTAGE. Prevalence of frailty at population level in
European ADVANTAGE Joint Action Member States: a systematic review and meta-analysis. Ann Ist Super Sanita. 2018 Jul-Sep;54(3):226-238. doi: 10.4415/ANN_18_03_10. PMID: 30284550.
(2) Yip, O., Dhaini, S., Esser, J. et al. Health and social care of home-dwelling frail older adults in Switzerland: a mixed methods study. BMC Geriatr 22, 857 (2022). https://doi.org/10.1186/s12877-022-03552-z
(3) Chu W, Chang SF, Ho HY. Adverse Health Effects of Frailty: Systematic Review and Meta-Analysis of Middle-Aged and Older Adults With Implications for Evidence-Based Practice. Worldviews Evid Based Nurs. 2021 Aug;18(4):282-289. doi: 10.1111/wvn.12508
(4) Macdonald SHF, Travers J, Shé ÉN, Bailey J, Romero-Ortuno R, et al. (2020) Primary care interventions to address physical frailty among community-dwelling adults aged 60 years or older: A meta-analysis. PLOS ONE 15(2): e0228821. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0228821
(5) WHO 2021. Social isolation and loneliness among older people: advocacy brief. Geneva: World Health Organization; 2021. Licence: CCBY-NC-SA 3.0 IGO
(6) Wurm S, Spuling SM, Reinhard AK, Ehrlich U (2023) Verbreitung von Patientenverfügungen bei älteren Erwachsenen in Deutschland. J Health Monit 8(3): 59–65. DOI 10.25646/11568
(7) Provinz Bozen (2020). Patientenverfügung. Gesundheitliche Vorsorgeplanung Staatsgesetz vom 22. Dezember 2017, Nr. 219. https://www.provinz.bz.it/gesundheit-leben/gesundheit/downloads/vorsorgeplanung.pdf; Provincia di Bolzano (2020). Disposizioni anticipate di trattamento. Pianificazione preventiva dei trattamenti sanitari – Legge statale del 22 dicembre 2017, n. 219. https://www.provincia.bz.it/salute-benessere/salute/downloads/disposizioni_anticipate.pdf
Download Seniorenstudie 2023
https://astat.provinz.bz.it/de/aktuelles-publikationen-info.asp?news_action=4&news_article_id=684413
Wichtig zu wissen: Die einzelnen Artikel des Gesundheitsblogs des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen werden nicht aktualisiert. Ihre Inhalte stützen sich auf Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Belege, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verfügbar sind. Gesundheitsinformationen aus dem Internet können eine persönliche ärztliche Beratung nicht ersetzen. Informieren Sie Ihren Hausarzt oder Ihre Hausärztin über mögliche Beschwerden. Weiter…